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Der offene Brief – Alice Schwarzer und Andere

 

„Keine weiteren schweren Waffen an die Ukraine“

Eine Analyse –

Erstmal rhetorisch wie oft geübt und genauso simpel: in der Einleitung, Lob für den Adressaten, hier: Kanzler Scholz, für seine „ursprüngliche Position“, keine schwere Waffen zu liefern, um dann im Schlussteil darauf zurückzukommen und an seine Verantwortung zu appellieren. Der so Gelobte muß sich doch geschmeichelt fühlen und seine geänderte Position überdenken – glaubt man; will man.

Auch rhetorisch gern genutzt, „klare Kante“ gegen einen Protagonisten – hier des russischen Aggressors, was die Objektivität der eigenen Position unterstreichen soll, aber gefolgt von einer nebulösen Argumentation über „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“, die explicité die ursprüngliche „klare Kante“ relativieren soll. So etwas schaffen nicht einfache Intellektuelle, nein, sondern nur deutsche Prominente.

Der offene Brief und sein roter Faden:

Die erste „intellektuelle“ Linie zeigt sich wie folgt: Die Ukraine darf sich natürlich (sic!) verteidigen, aber wenn die „Kosten“ der eigenen Opfer (welch` ein häßliches Wort in diesem Zusammenhang!) zu hoch sind, muß der Verteidiger den Widerstand aus „ethisch-politisch“ Gründen aufgeben. Im Klartext: Wenn der Aggressor genug getötet hat, hat der Verteidiger aufzugeben. Punkt!

Meine Bewertung: Aus einer „ethisch-politischen“ Wolke heraus läßt sich alles und nichts begründen. Aber in realitas ist es eine Einladung für jeden Aggressor.

Zweite “intellektuelle“ Linie: Verbot, ein „manifestes“ Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Im Klartext: Wer mit Atomwaffen droht, hat gewonnen.

Meine Bewertung: Nicht nur „Angst essen Seele auf“ (Fassbinder), sondern „Angst fressen Hirn auf.“Hier geht es offensichtlich um die ganz persönliche, völlig überbordende und komplett lähmende Angst von einigen deutschen „Intellektuellen“. Im englischen Sprachraum bekannt als „German angst“. Dann lieber in einer Gesellschaft leben, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben hat.

Dritte „Intellektuelle“ Linie: Wer durch Verteidigung eskaliert, liefert dem Angreifer ein Motiv zu einem verbrecherischem Handeln. Im Klartext: Der Angegriffene ist in Wirklichkeit schuld.

Meine Bewertung: Gern benutztes Rational für Täter/Opfer-Austausch. Der Vergewaltiger ist nicht schuld, sondern das Opfer, weil es einen Minirock trug.

Vierte „intellektuelle“ Linie: Eine Rüstungsspirale ist schädlich für den Klimawandel.Im Klartext: Wenn die auch noch so kruden Argumente nicht überzeugen können, wird einfach die Ebene des Diskurses nach unten verändert, denn der Kampf gegen den Klimawandel zieht immer.

Meine Bewertung: Ukraine aufgeben, dann retten wir das Klima!

Fazit:

Der offene Brief einiger deutscher „Prominenter“, publiziert von Alice Schwarzer, aber offensichtlich geführt von der Feder der emeritierten Professoren-Brüder Reinhard und Wolfgang Merkel (Lieblingswort von R. Merkel: „manifest“), ist ein Pamphlet der inhaltlichen Widersprüche; es ist im Prinzip ein Attentat auf die Intellektualität. Das Gestammel der Brüder Merkel in diversen Talkshows zu ihrem offenen Brief „manifestiert“ ihren kompletten Realitätsverlust. Fragen Sie mal Wladimir Putin nach „moralisch verbindliche Normen (sind) universaler Natur“. Jeder in diesem Lande darf sich natürlich zu jedem Thema frei äußern und das ist auch richtig so! Aber richtig ist auch, daß dieser offene Brief im Namen von Alice Schwarzer nicht mehr als ein „geistiger Furz“ einer Gruppe von deutschen, prominenten Realitätsverweigerern ist.

Jorge

Wurzeln: Deutsch / Englisch / Argentinisch Schule: Abitur deutsch Ausbildung - praktisch: Fliegerischer Dienst Jet Luftwaffe - akademisch: Führungsakademie der Bundeswehr Verwendungen u.a. : - Kommandeur Fliegerischer Dienst - vd. Verwendungen im Generalstabsdienst - Sprecher im Verteidigungsministerium - Sprecher NATO - vd. Verwendungen im Ausland

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Gerhard Kern

    WOKE“-BEWEGUNG
    Die Entstehung des „Tolerantismus“
    VON MATHIAS DÖPFNER
    Die Methoden der „Woke“-Bewegung sind bigott. Begriffe zu verbieten oder zwanghaft neue Sprachgebote durchzusetzen, ist auch historisch ein zuverlässiges Mittel autoritärer oder totalitärer Systeme.

    Einige der wichtigsten Errungenschaften und Ziele der freiheitlichen und offenen Gesellschaft finden in der sogenannten „Woke“-Bewegung ihren zugespitzten Ausdruck: Seit dem Ende der Sklaverei wachsen die Bestrebungen, Rassismus zu überwinden. Mit der Französischen Revolution und mit der Erfindung des Begriffs „Feminismus“ durch Alexandre Dumas beginnt eine Frauenbewegung, die die Gleichberechtigung der Geschlechter zum Ziel hat. Seit der Sexualforscher Magnus Hirschfeld zu Beginn des letzten Jahrhunderts vom „dritten Geschlecht“ spricht und spätestens seit dem ersten Christopher Street Day am 28. Juni 1969 in New York wächst die Sensibilität für fluide Geschlechteridentitäten und die Wachsamkeit gegenüber Homophobie. Und seit dem Ende des Kolonialismus beginnt langsam eine kritische Auseinandersetzung mit Kolonialverbrechen. All diese Entwicklungen stehen für Fortschritt und Zivilisation und markieren Grundpfeiler, ohne die eine freie Gesellschaft nicht denkbar ist. Kurz: „Woke“ fasst die wesentlichen humanitären Ziele einer modernen, aufgeklärten, toleranten Lebensform zusammen.

    Ich jedenfalls kann mich mit fast allen großen und grundsätzlichen Zielen dieser Bewegung leidenschaftlich identifizieren – lehne allerdings fast alle vorgeschlagenen Lösungen und Methoden der „Woke“-Bewegung ebenso leidenschaftlich ab. Mehr noch: Ich halte vieles davon für gefährlich.

    „Woke“ ist zum Schlachtruf einer Freiheits- und Toleranzinitiative geworden, die im Namen einer guten Sache allzu häufig genau das Gegenteil dessen bewirkt, was sie vorgibt zu wollen. Statt Freiheit und Toleranz zu fördern, fördert sie oft Unfreiheit und Intoleranz. Statt Inklusion bewirkt sie immer häufiger Exklusion. Die „Woke“-Bewegung ist zu einem Machtkampf verkommen – eine Revolution, die ihre Kinder frisst und sich mehr und mehr als echte Bedrohung der liberalen Gesellschaft erweist. Dass „woke“ eigentlich für gute Absichten steht, ändert daran gar nichts. Viele schreckliche Dinge sind in der Menschheitsgeschichte im Namen guter Absichten entstanden. Eine Freiheitsbewegung, die unfreiheitlich agiert, ist unglaubwürdig. Es ist höchste Zeit, wirklich „wach“ zu werden.

    Der Begriff „woke“ bedeutet so viel wie „erwacht“, „wachsam“ beziehungsweise „aufmerksam“. Er entstand Mitte des 20. Jahrhunderts in Amerika. Die aus „woken“ entstandene Wortschöpfung war ein Ausdruck des Bewusstseins für soziale und rassistische Unterdrückung. Eine Renaissance und neue Radikalität erlebte „woke“ im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung, nach dem Tod von Michael Brown (2014) oder George Floyd (2020).

    Seit einigen Jahren droht die Bewegung zu kippen: Selbst der frühere US-Präsident Barack Obama warnte die Amerikaner 2019, sie sollten nicht zu „woke“ sein. Es sei kein Aktivismus, „wenn ich etwas darüber poste, dass jemand anderes etwas falsch gemacht oder das falsche Verb benutzt hat“.

    Auf einer großen Konferenz, an der ich im Jahr 2022 teilnahm, fragte zu Beginn der Diskussion auf der Bühne eine Moderatorin in die Runde der Wirtschaftsführer: Wer von Ihnen sagt in seinem Arbeitsalltag mehrmals Dinge, nicht weil Sie glauben, dass sie richtig sind, sondern weil Sie glauben, sie sagen zu müssen? Im Auditorium blieb fast keine Hand unten. Solange es sich dabei um alltägliche Floskeln oder Höflichkeitsnotlügen handelt, ist das harmlos. Problematisch aber wird es, wenn sich gesprochene Sprache und behauptete Überzeugung immer weiter und fundamentaler vom wirklichen und wahrhaftigen Denken entfernen. Es entsteht eine Sprache der Unwahrhaftigkeit, die den Humus für unwahrhaftiges Handeln bildet. Ich sage nicht mehr, was ich denke, also tue ich auch nicht mehr, was ich für richtig halte.

    Starre Sprachregelungen, Tabus, das Schüren von Angst sind normalerweise verlässliche Ingredienzen autoritärer Regime. Für die gute Sache der „Woke“-Bewegung gelten offenbar andere Maßstäbe. „Cancel Culture“ heißt das im Kulturkampf der Identitätspolitik.

    Im Namen der Wachsamkeit gegenüber diskriminierender oder ausgrenzender Sprache, im Zeichen der kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialverbrechen geschehen immer absurdere Dinge. Einige Fälle und Forderungen haben symbolischen Rang – und werden zu Ikonen der Verlogenheit und Absurdität.

    Die Forderung, dass das Gedicht von Amanda Gorman, die die Welt mit ihrem Auftritt bei der Amtseinführung von Joe Biden begeisterte, nicht von einer Weißen übersetzt werden darf.

    Die Forderung, Statuen von Winston Churchill zu demontieren, weil von ihm rassistische Äußerungen überliefert sind (obwohl er Europa vor den Nazis gerettet und so auch den Holocaust beendet hat).

    Die Forderung, in den Schulen Werke von William Shakespeare vom Lehrplan zu nehmen, weil in ihnen die Sichtweise weißer, cisgender, heterosexueller Männer im Mittelpunkt stehe.

    Die Forderung und die Entscheidung, dass in immer mehr Hollywoodfilmen oder Plattform-Produktionen Schwule nur noch von Schwulen gespielt, Lateinamerikaner nur noch von Lateinamerikanern und Transsexuelle nur noch von Transsexuellen dargestellt werden dürfen. Tom Hanks sagt inzwischen, er würde heute keinen Schwulen mehr spielen (wie er es vor 30 Jahren in „Philadelphia“ getan und dafür einen Oscar erhalten hat).

    Die Forderung und die Entscheidung, dass der Account der Journalistin Meghan Murphy von Twitter verbannt werden musste, weil sie in einem Tweet schrieb: „Männer sind keine Frauen“ (was als Hatespeech eingestuft und also zensiert wurde).

    Die Beispiele folgen immer dem gleichen Muster: Um Bewusstsein für mögliche Diskriminierung, Exklusion oder Intoleranz zu schärfen, wird mit den Mitteln der Diskriminierung, Exklusion oder Intoleranz agiert. Es erinnert an das mittelalterliche Ritual der Teufelsaustreibung oder Hexenverbrennung. Und hat damit häufig nicht nur etwas Unmenschliches, sondern auch etwas Naives. So als könnte man etwas ungeschehen machen, indem man es löscht oder verbietet.

    Außerdem sind Sprachverbote oder die zwanghafte Durchsetzung neuer Sprachgebote historisch ein zuverlässiges Mittel autoritärer oder totalitärer Systeme. Die Nazis und der Stalinismus verordneten Neusprech. Die Reformation im 16. Jahrhundert exekutierte den „Bildersturm“ und zerstörte in ihrem Wahn Kulturgüter und Sinnbilder des Christentums. Im Kontext der Kreativität ist die Methode von Sprachtabus und Cancelling obendrein zutiefst anti-künstlerisch. Denn dem künstlerischen Ausdruck wird hier eine Eindeutigkeit unterstellt, die große Kunst nie haben kann. Kunst ist immer ambivalent, oft ironisch oszillierend und in vielen Aspekten nur im Kontext ihrer Entstehungszeit zu verstehen. Am traurigsten an dem Vorgehen ist aber, dass es das vermeidet oder unterbindet, was kritische Auseinandersetzung erst eigentlich ermöglicht: Debatte. Konstruktiver Streit über den richtigen Weg und die kritische Einordnung von Fehlern der Vergangenheit – das würde „Woke“-Bewusstsein im eigentlichen, im guten Sinne fördern.

    Am 7. Juni 2020 trat der Meinungschef der „New York Times“, James Bennet, auf massiven internen und externen Druck hin zurück. Er hatte die Spalten des Gastkommentars – die auch schon Terroristenführern aus Afghanistan, dem Taliban-Vize Sirajuddin Haqqani und Wladimir Putin offenstanden – dem Republikaner Tom Cotton geöffnet, der darin den Einsatz von Soldaten gegen gewalttätige Black-Lives-Matter-Demonstrationen verteidigt hatte. Die Empörung über den Inhalt und den Autor des Kommentars wurde in Teilen der Redaktion und in weiten Teilen der Leserschaft so heftig, dass sich die Verlagsgeschäftsführung gezwungen sah, zu handeln. Inhaltlich ist der Fall einigermaßen eindeutig: Die Idee des Gastkommentars ist es ja, unkonventionelle Meinungen von außen zu Wort kommen zu lassen, dabei die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Auch deshalb kommen in solchen Texten regelmäßig Positionen zu Wort, die als redaktioneller Kommentar niemals erscheinen würden. Bei der Entscheidung aber ging es am Ende auch um rein Ökonomisches. Für die „New York Times“ war der Fall zu einer ernsthaften Belastung des Geschäftsmodells geworden. Zu viele der Millionen Abonnenten wollten eine solche abweichende Meinung in „ihrer“ „New York Times“ nicht lesen und drohten mit Boykott und Abo-Kündigung. Vor allem deshalb hat der Verlag gehandelt. Die Leser hatten die Redaktion als Geisel genommen.

    Seit einiger Zeit werden auch die Vorgaben in Hollywood immer enger: Wenn Produktionen den Oscar für den besten Film erhalten wollen, müssen sie seit 2022 – mit einer Übergangsphase – nachweisen, dass sie genügend Diversität in der Produktion haben. So ist unter anderem in der neuen Verordnung der Oscar Academy festgelegt, dass einige Hauptdarsteller oder wichtige Nebendarsteller einer ethnischen oder sexuellen Minderheit angehören müssen. Die Akademie, die den Preis vergibt, beschloss außerdem: Sind die Hauptdarsteller weiß und heterosexuell, müssen mindestens 30 Prozent der Darsteller von Nebenrollen entweder weiblich sein oder ethnischen beziehungsweise sexuellen Minderheiten angehören. Zudem muss die Handlung des Films Anliegen unterrepräsentierter Gruppen enthalten. Die 30-Prozent-Regel gilt auch für den Rest der Produktion. („Jenseits von Afrika“ beispielsweise wäre an den Vorgaben gescheitert.)

    Amazon hat für seine eigenen Produktionen inzwischen folgende Regeln: Der Cast soll „idealerweise ein Minimum von 30 Prozent Frauen und 30 Prozent Angehörigen einer unterrepräsentierten rassischen/ethnischen Gruppe beinhalten“. Das Ziel wird in drei Jahren auf 50 Prozent angehoben. Zudem solle mindestens eine Person in einer Sprechrolle folgende Voraussetzung erfüllen: „LGBTQIA+, Menschen mit einer Behinderung und drei regional unterrepräsentierte Rassen/ethnische/kulturelle Gruppen.“ Die Hälfte müssen Frauen sein. Für Dienstleistungen bei Produktionen sollen mindestens drei Angebote von Verkäufern oder Lieferanten eingeholt werden, darunter eines von einer Frau und eines von einer Minderheit geführten Unternehmens. Zusätzlich soll die Identität der besetzten Schauspieler (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Rasse/ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Behinderung) mit der der Figur übereinstimmen.

    Ganz nebenbei wird dabei die Idee der Schauspielerei in ihr Gegenteil verkehrt. Es geht ja gerade darum, etwas zu „spielen“, nicht etwas zu repräsentieren, was man ist. Sonst dürfte ein Mörder nur noch von einem Mörder gespielt werden. Es geht um Illusion, nicht um Realität. Am einfachsten wären die Vorgaben in Hollywood zu umzusetzen, wenn jeder sich selbst spielt. Oder noch besser, jeder das ist, was er ist. Dann braucht es zumindest keine Schauspielschulen mehr. Aber eigentlich auch keine Filme.

    Quoten, Quantitäten, Vorgaben und Verbote: In amerikanischen Museen und Institutionen der bildenden Kunst zeichnen sich ähnliche Tendenzen ab. Mit Kunst, Filmkunst oder künstlerischer Freiheit generell hat das nur noch wenig zu tun.

    Die Hüter der identitären Ideologie treten gern als Weltverbesserer auf. Ihre Methoden erinnern – wenn man dem britischen Publizisten Douglas Murray zuhört – eher an einen Deutschen Schäferhund. Die Aufgabe des Schäferhundes ist es, die Herde zu hüten, dafür zu sorgen, dass sie möglichst geschlossen dahin geht, wo der Schäfer sie hinführen will. Dabei konzentriert sich der Schäferhund nicht auf das Zentrum der Herde. Seine ganze Aufmerksamkeit liegt auf den Schafen, die drohen, abzuweichen. Stets umkreist der Schäferhund die Herde und sucht Abweichler. Er bewacht die Ränder. Sobald ein Schaf aus der Formation ausbricht, ein paar Meter zu weit links oder rechts läuft, springt er hin und erschreckt das Schaf oder beißt es und treibt es so in Herde zurück. Er tötet es nicht, er bedroht es und schüchtert ein und alle Schafe in der Herde lernen, was sie besser nicht tun. Abweichen.

    Für Schafherden mag das ein gutes Mittel sein. In einer freien Gesellschaft brauchen wir keine Schäferhunde.

    Zu den gefährlichsten Bigotterien der „Woke“-Bewegung gehört ihr in Teilen unverhohlener Hang zur Relativierung oder Verstärkung von Antisemitismus. Beim Kampf für die Aufarbeitung von Kolonialverbrechen und gegen Islamophobie schwingt das Pendel nicht selten so weit, dass der Holocaust relativiert wird.

    Eine der bekanntesten Influencerinnen ist das Model Bella Hadid. 2021 nahm sie an einer Demonstration teil, bei der dazu aufgerufen wurde, „Juden ins Meer zu werfen“. Dieser Ausdruck wird von Gruppen verwendet, die Israel das Existenzrecht absprechen. Hadids Vater ist ein palästinensischstämmiger Immobilienhändler. Schon häufiger ist die Familie durch antisemitische Kommentare aufgefallen. So teilte Bella Hadid ein Comic zum Nahost-Konflikt, in dem das Wort Israel nur in Anführungszeichen gesetzt wurde. Ihre Schwester Gigi postete dazu ein Herz.

    Die Sängerin Dua Lipa, die zeitweise mit Bella Hadids Bruder liiert war, teilte auf ihrem Instagram-Account mit Millionen Followern einen Beitrag des Filmemachers Vin Arfuso. Darin heißt es: „Die großen, bösen, harten Typen der israelischen Streitkräfte genießen es, Kinder zu schlagen und zu erschießen.“ Außerdem behauptete Arfuso, dass Israels Soldaten T-Shirts tragen, auf denen Gewehre auf die Bäuche von Schwangeren gerichtet sind. Dazu der Text: „Ein Schuss, zwei Tote.“ Der Post wurde von Arfuso inzwischen gelöscht.

    Mitte November 2023 ging Osama Bin Ladens antisemitischer und terrorverherrlichender „Brief an Amerika“, in dem er die Anschläge vom 11. September 2001 mit der Unterstützung der USA für Israel rechtfertigte, in den sozialen Medien viral. Junge TikToker posteten Videos von sich, in denen sie den Brief als augenöffnend bezeichneten und andere Nutzer aufforderten, ihn zu lesen. Viele fühlten sich in eine „Existenzkrise“ gestürzt oder gar „ihr Leben lang belogen“. Was zunächst nicht zu den Top-Trends auf der Videoplattform gehörte, wurde später durch eine Zusammenstellung der Videos auf X durch den amerikanischen Journalisten Yashar Ali entfacht. Dieser Beitrag wurde über 40 Millionen Mal angesehen.

    Bei der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Kunstschau Documenta kam es im Jahr 2022 zum Eklat in mehreren Stufen, als das aus Indonesien stammende Kuratoren-Kollektiv „Ruangrupa“ keinen einzigen israelischen Künstler in die Schau einbezog. Bereits Monate vor der Eröffnung gab es Hinweise auf einen systematischen Boykott israelischer Künstler. Eine Diskussion mit Vertretern der jüdischen Gemeinde wurde verweigert. Die Warnungen, dass es sich hier um strukturellen Antisemitismus der Ausstellungsmacher handeln könnte, wurden von der Politik, auch von der zuständigen Kulturstaatsministerin Claudia Roth, in den Wind geschlagen. Erst als eindeutig antisemitische Bilder in der mittlerweile eröffneten Schau zu sehen waren, kippte die Stimmung. Blutsaugende Fratzen mit Davidstern, jüdische Stereotypen im Stil des Nazi-Propagandablattes Stürmer in einer Ausstellung in Deutschland, die mit Steuermillionen subventioniert wird – das war dann doch zu viel. Die Bilder wurden abgehängt (später fanden sich noch weitere antisemitische Objekte). Die Leiterin der Documenta, Sabine Schormann, musste – viel zu spät – zurücktreten. Im Gewand kritischer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und multikultureller Diversität wurde am Ende judenfeindliche Propaganda verbreitet – „woke“ als Sinnbild für Exklusion und Rassismus.

    Antisemitismus unter dem Deckmantel der „Woke“-Bewegung – das ist kein Unfall, sondern systemisch, wie auch Anita und Poju Zabludowicz erleben mussten. Das finnische Ehepaar gehört zu den wichtigsten Sammlern zeitgenössischer avantgardistischer Kunst in England, den USA und Finnland. Die Branchenpublikation „Larry’s List“ platziert die Zabludowicz Collection auf Platz 3 der weltweit wichtigsten Sammlungen. Das englische Königshaus verlieh Anita Zabludowicz den „Order of the British Empire“-Orden für ihre Verdienste um die Kunstwelt.

    Die Geschichte dieser Familie ist eine besondere. Ursprünglich aus Polen stammend, wurden Poju Zabludowicz’ Eltern, die sich während des Holocaust kennenlernten, deportiert, die Mutter nach Auschwitz, der Vater in verschiedene andere Lager. Wie durch ein Wunder überlebten beide. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emigrierten sie nach Finnland, um ein neues Leben zu beginnen. Shlomo Zabludowicz begeisterte sich schnell für die Gründung des Staates Israel und engagierte sich für eine moderne Verteidigungspolitik. Schließlich wurde er – auch als Unternehmer und Hersteller – zu einer der entscheidenden Figuren bei der Bewaffnung Israels und dann auch bei der Wiederbewaffnung Deutschlands. Seine tiefe Überzeugung und Motivation waren: Nur ein starkes und militärisch geschütztes Israel kann Juden aus aller Welt eine sichere Heimat, ein Schutz vor weiteren Wellen von Antisemitismus sein. Und Deutschland kann dabei aufgrund seiner Geschichte eine besondere Rolle spielen. In Israel wird Shlomo Zabludowicz heute noch wie ein Volksheld verehrt. Sein Sohn Poju hat sein Berufsleben unabhängig von diesem Erbe zu führen versucht und wesentlich als Investor in Immobilen und Technologie-Firmen (darunter auch die Big-Data-Firma Palantir) agiert.

    Seit einigen Jahren nun formiert sich ein organisierter Boykott der Zabludowicz-Collection. In öffentlichen Erklärungen wird unter dem Kürzel BDZ („Boycott Divest Zabludowicz“) ein diffamierendes Bild gezeichnet. Zionismus als Sinnbild quasi eines neuen Kolonialstaates Israel und schmutziges Geld von Waffenhändlern sind die verleumderischen Ingredienzen.

    Als einer der Hauptvorwürfe und „Belege“ für die Notwendigkeit eines Boykotts wird angeführt, dass Zabludowicz in das Unternehmen Palantir investiert hat. Dessen „Hauptvergehen“: Zusammenarbeit mit der NSA und anderen Geheimdiensten ausschließlich demokratischer Nationen. Anstatt Palantir, das derzeit auch eine Rolle in der Unterstützung der Ukraine in der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg und in Israel bei der Verteidigung gegen den Hamas-Terror spielt, als wichtiges Instrument in der internationalen Terrorismusbekämpfung, also quasi als Schutzmacht der Demokratie, zu beschreiben, ist es im „Woke“-Milieu der Inbegriff des Bösen. Zum Canceln einer Kunstsammlung ist die Unterstützung Palantirs ein willkommener Anlass.

    Immer länger werdende Listen von Künstlern, die ihre Werke aus der Zabludowicz Collection zurückgezogen haben, werden im Internet veröffentlicht. Die Forderungen überschlagen sich. Es geht nicht um die Schwächung, es geht um „das Ende“, die Zerstörung der Sammlung. Hinter den Aktivitäten steht maßgeblich die antiisraelische und antisemitische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), die unter anderem den Boykott israelischer Produkte überall auf der Welt propagiert (in trauriger Kontinuität des Nazi-Aufrufs „Kauft nicht bei Juden“). Zum Höhepunkt der Hetzjagd wurde ein Gespräch, das Anita und Poju Zabludowicz im Frühjahr 2022 mit dem Board der Tate Gallery führen mussten. Man legte Anita Zabludowicz freundlich und um Verständnis ringend nahe, aus dem Council der Tate auszutreten, um Schaden von dem Museum abzuwenden. Anita Zabludowicz fragte höflich, was genau man ihr zur Last lege, was sie falsch gemacht habe. Die Antwort war ein Schulterzucken. Man fürchte die Schäden, die einige empörte, der „Woke“-Bewegung verpflichte Künstler und Kuratoren der Tate zufügen könnten. Kurz: Die Tate, eine der mächtigsten Kulturinstitutionen der Welt, knickte ein vor dem Zeitgeist. Folgen statt Führen.

    Die Unterstützung der BDS-Bewegung und des Israel-Boykotts auch von immer mehr Klimaaktivisten ist erschreckend. In diesem Sinne haben „Black Lives Matter“, der antiisraelische und antisemitische Propagandaerfolg auf TikTok nach dem Hamas-Angriff auf Israel und die gesamte „Woke“-Welle das Potenzial, zum trojanischen Pferd einer neuen autoritären Bewegung zu werden, die die Freiheit und demokratische Werte schwächt. Der Zweck scheint so wichtig zu sein, dass die Legitimität und Angemessenheit der Maßnahmen nicht hinterfragt wird.

    Was als unterstützenswerte Toleranzbewegung begann, wird mehr und mehr zur Intoleranzbewegung. Es entsteht ein neuer Extremismus, ein ganz andersgearteter „-Ismus“: der Tolerantismus.

    Höchst intolerant werden neue Toleranzregeln verhängt. Nach dem Motto: Was toleriert wird und was nicht, das bestimmen wir. Spätestens hier wird die ernüchternd machtpolitische Komponente des Kulturkampfes sichtbar. Spätestens hier wird „woke“ erschütternd banal. Es ist Zeit für eine Korrektur. Mit Tolerantismus wird die Freiheit geschwächt, nicht gestärkt.

    Intoleranz im Namen der Toleranz gegenüber Andersdenkenden gilt leider auch in Teilen einer immer radikalisierteren Klimaschutzbewegung.

    Der Klimawandel ist real. Das muss hier weder bewiesen noch diskutiert werden. Die Erderwärmung richtet sich nach keiner Partei. Sie ist nicht ideologisch. Sie ist weder rechts noch links. Das vergangene Jahrzehnt war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

    Fest steht: Solange Länder wie China oder die arabischen Emirate andere Vorstellungen vom Umgang mit CO2-Ausstoß und Klimawandel haben und die Welt hier keinen wirklich gemeinsamen Nenner findet, wird das Problem nicht bewältigt werden. Doch während wir die wirklichen Ursachen des Klimawandels nicht in den Griff bekommen, schwächen und zerstören wir mit vielen Methoden im Kampf gegen den Klimawandel immer mehr Grundpfeiler freiheitlicher Lebensformen. Immer häufiger hört man von Klimaaktivisten Töne, die Zweifel säen, ob die Demokratie für die schnelle und effiziente Durchsetzung von Maßnahmen zur Stabilisierung des Klimas überhaupt die richtige Staatsform sei. Wenn jedes Mittel im Kampf für die gute Sache recht ist, gilt dies zuerst für die Methoden des Protests. Immer wieder blockieren in den Jahren 2022 und 2023 in Deutschland und anderen europäischen Ländern Mitglieder verschiedenster Gruppierungen Straßen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dass Pendler deswegen nicht zur Arbeit können, dass Krebspatienten nicht zu ihrer lebensnotwendigen Therapie kommen (so geschehen im Sommer 2022 in Berlin) oder dass Krankenwagen Schlaganfallpatienten nicht mehr rechtzeitig in die Rettungsstelle bringen können, wird dem hehren Ziel untergeordnet. Den Weg des Diskurses, der Debatte haben viele der Klimaaktivisten längst verlassen. Im Zuge einer selbstgerechten Idealismusbesessenheit verschwimmen die Grenzen zwischen Aktivismus und Kriminalität zusehends.

    Doch diese Formen von Intoleranz sind harmlos, verglichen mit der ideologischen Radikalisierung führender Vertreter der Klimabewegung. Greta Thunberg, die Ikone von „Fridays for Future“, Idol einer ganzen Generation, hat eine sich als Fratze entlarvende Einstellung gegenüber der Freiheit. Allerspätestens der Hamas-Angriff auf Israel hat ihren beklemmend aggressiven Antisemitismus offenbart. Wer genauer hinschaute, konnte es schon deutlich früher wissen. Im Mai 2021 teilte sie den Post einer BDS-Unterstützerin. Im Sommer weigerte sie sich, die Hamas als Terrorgruppe zu bezeichnen. Im Oktober zeigte sie sich bei einer Demonstration mit einem Freund, der einen Schal trug, auf dem „Jerusalem ist die Hauptstadt Palästinas“ stand. Und seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 hat sich ihr Ton noch weiter verschärft: Sie trat mehrfach in ein Palästinensertuch gehüllt auf, forderte „No climate justice on occupied land“ (die Rede ist von Israel), kritisierte einen angeblichen Genozid an den Palästinensern und forderte die Auflösung Israels („From the river to the sea – Palestine will be free“). Diese Sprache findet sich auch in ihren Postings und Streikaufrufen. Zuletzt auch in einem gemeinsam mit anderen Mitgliedern der schwedischen „Fridays for Future“-Bewegung verfassten Meinungsbeitrag, in dem sie Israel des Völkermords im Gazastreifen beschuldigt.

    Die Gruppe „Fridays for Future“ ist mehrfach wegen antisemitischer Äußerungen aufgefallen. Auf dem Instagram-Profil der Bewegung wurden Posts geteilt, in denen Israel für die Eskalation verantwortlich gemacht wurde. In einem Beitrag wird Israel „ethnische Säuberung“ vorgeworfen und zum Boykott Israels aufgerufen. Unterstützt wurden die Aufrufe der BDS-Bewegung nicht nur von Greta Thunberg.

    Roger Hallam, Gründer von Extinction Rebellion (XR), einer internationalen Gruppe, die seit 2018 radikale Klimaproteste betreibt, nannte den Holocaust in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ im November 2019 „just another fuckery in human history“ – „nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte“. Eine Formulierung, die fatal an Alexander Gaulands schrecklichen Satz, „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, erinnert. Wenn ein AfD-Politiker so etwas sagt, wird es zu Recht als unerträglich kritisiert. Wenn es aus der Klimabewegung kommt, finden es viele nur cool. In einem Interview des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ sagte Hallam später: „Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt. Es ist nur der Mechanismus, durch den eine Generation eine andere tötet.“

    Als er gefragt wurde, ob er tatsächlich den Klimawandel mit der systematischen Ermordung von Millionen Juden vergleichen wolle, antwortete er selbstbewusst, dass viele XR-Aktivisten mit solchen Nazi-Vergleichen nicht einverstanden seien. „Ich bin nicht der Sprecher der Bewegung. Aber meine persönliche Meinung ist: Die Eliten haben die bewusste Entscheidung getroffen, die nächste Generation zu zerstören, um an der Macht bleiben zu können.“ Als Ausrutscher ist diese Rhetorik also beim besten Willen nicht zu deuten. Dieses Denken ist strukturell.

    Roger Hallam denkt und sagt ebenso klar: Das Thema Klimawandel ist größer als die Demokratie. Und wörtlich: „Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant.“ In der populären Aktivistenbewegung Extinction Rebellion herrscht das Prinzip: lieber ziviler Ungehorsam als demokratische Institutionen für politische Ziele nutzen. XR-Aktivisten formulieren das so. „Wir haben doch in den letzten Jahren gesehen, dass es nicht mehr ausreicht, nur zu demonstrieren oder Petitionen zu unterschreiben.“ Man argumentiert mit dem drohenden Aussterben der Menschheit – damit im Kampf dagegen jedes Mittel recht ist. Auch die Relativierung des Holocausts, der Ermordung von sechs Millionen Juden. Auch die Verachtung des Rechtsstaates. Dieses Denken ist totalitär.

    Der britische Thinktank Policy Exchange schreibt über die Gruppe: „Extinction Rebellion lehnt sowohl unsere repräsentative Demokratie als auch die liberale freie Marktwirtschaft ab und strebt ausdrücklich an, beides umzustürzen. Die führenden Köpfe der ‚Rebellion‘ haben deutlich gemacht, dass diese Ziele untrennbar mit ihren Forderungen in puncto Umwelt verbunden sind. In der ‚Rebellionserklärung‘ der Extinction Rebellion (von 2019) heißt es beispielsweise: ‚Wir, im Einklang mit unserem Gewissen und unserer Vernunft, erklären uns in Rebellion gegen unsere Regierung und die korrupten, unfähigen Institutionen, die unsere Zukunft bedrohen … die vorsätzliche Komplizenschaft, die unsere Regierung an den Tag gelegt hat, hat eine sinnvolle Demokratie zerrüttet und das Gemeinwohl zugunsten von kurzfristigem Gewinn und privaten Profiten aufgegeben.‘“

    Demokratie- und Freiheitsverachtung im Namen einer guten Sache – das war der Humus, auf dem sich in den 70er-Jahren die moralische Hybris und kriminelle Gewalt der RAF entwickelte.

    Der Autor ist Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, in der auch WELT AM SONNTAG erscheint. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Der Freiheitshandel: Warum Geschäfte mit Diktatoren unsere Demokratie gefährden“, das gerade im Plassen-Verlag erschienen ist.

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